Darm-Leber-Achse

Univ.-Prof. Dr. Vanessa Stadlbauer-Köllner

Univ.-Prof. Dr. Vanessa Stadlbauer-Köllner*

Entgiftung ist eine der Hauptfunktionen der Leber. Wie stark dieses Organ tagtäglich in Anspruch genommen wird, hängt unter anderem von einer intakten Darmfunktion ab. Mag. Anita Frauwallner interviewt dazu Univ.-Prof. Dr. Vanessa Stadlbauer-Köllner von der Medizinischen Universität Graz. Die Expertin gibt Einblicke in die probiotische Forschung, die bereits wertvolle Erkenntnisse über die wichtige Allianz von Leber und Darm in der Bekämpfung und Behandlung von Zivilisationskrankheiten gebracht hat.

Mag. Frauwallner: In der Bevölkerung ist die enorme Bedeutung der Leber und vor allem ihre Abhängigkeit vom Zustand des Darms noch nicht bekannt, obwohl Lebererkrankungen stark zunehmen. Können Sie unseren Lesern den Zusammenhang zwischen Darm und Leber erklären?

Prof. Stadlbauer-Köllner: Der Darm ist das grösste Organ des Menschen mit weit über 200 m2 Oberfläche. Er steht in einem äusserst interessanten funktionellen Zusammenhang mit der Leber, da Nährstoffe, Vitalstoffe, aber auch Signalmoleküle (Zytokine) und bakterielle Bestandteile über ein grosses Blutgefäss, die Pfortader, als erstes in die Leber gelangen. Unter normalen Bedingungen treten nur wenige bakterielle Bestandteile, z. B. Endotoxine und bakterielle DNA, via Darmwand in das Blut über. Sie werden dann in der Leber rasch abgebaut. Bei einer Störung der Darmbarriere kommt es zu einem stark vermehrten Einstrom bakterieller Bestandteile in die Leber, die nicht mehr damit umgehen kann. Das führt zu entzündlichen Veränderungen im Organ und damit zu einem Leberschaden.

Mag. Frauwallner: Die letzten Statistiken zu Lebererkrankungen, die ich gelesen habe, sind wirklich erschreckend. 30 % der Mitteleuropäer leiden bereits daran, die Tendenz ist stark steigend, und ein gar nicht so geringer Anteil von angeblich 8 bis 10 % der Patienten stirbt auch an diesen Erkrankungen. Noch verwunderlicher ist aber die Tatsache, dass nicht nur Menschen, die gern dem Alkohol zusprechen, von Leberkrankheiten betroffen sind, wie man dies früher angenommen hat, sondern auch jene, die noch nie Alkohol angerührt haben, allerdings einfach gern und gut essen, zu wenig Bewegung machen usw. Viele Ärzte sind darüber besorgt, dass auch andere Organe geschädigt werden, die auf den ersten Blick gar nichts mit dem Entgiftungsorgan Leber zu tun haben. Können Sie uns das erklären?

Prof. Stadlbauer-Köllner: Bei einer Störung der Darmbarriere kommt es eben nicht nur zu einer Überlastung der Leber und zu ihrer Entzündung. Wenn die bakteriellen Produkte nicht mehr abgebaut werden können und weiter in die Blutzirkulation gelangen, dann werden Immunzellen aktiviert, die auch in anderen Organen Schaden anrichten können. Das Fettgewebe steht ebenso in in einem engen Zusammenhang mit der Leber und dem Stoffwechsel. Botenstoffe aus dem Fettgewebe, vor allem aus jenem am Bauch, können in der Leber den Zuckerstoffwechsel negativ beeinflussen und eine Form der Zuckerkrankheit auslösen. Diese wiederum führt zu einer Fetteinlagerung in den Leberzellen und somit zur Fettleber, die sich bei manchen Patienten leider zu einer Fettleberhepatitis oder Leberzirrhose entwickeln kann.

„Durch eine Störung der Darmbarriere kommt es zu einem stark vermehrten Einstrom bakterieller Bestandteile in die Leber.“
Univ.-Prof. Dr. Vanessa Stadlbauer-Köllner

Mag. Frauwallner: Sie arbeiten an Studien zum Zusammenhang zwischen den Darmbakterien, der Leber und der Immunfunktion. Diese Aktivitäten haben vor allem gezeigt, dass man diese Achse noch viel intensiver erforschen muss, dass die Besiedlung des Darms mit gesunden Bakterien von enormer Bedeutung ist, um vielleicht sogar dem Anstieg von Lebererkrankungen Einhalt gebieten zu können. Können Sie uns dazu etwas sagen?

Prof. Stadlbauer-Köllner: Bei Leberzirrhose, dem Endstadium chronischer Lebererkrankungen, ist die Zusammensetzung der Darmflora verändert, die Darmbarriere gestört und dadurch stärker durchlässig. Infolgedessen wird das Immunsystem der Patienten überlastet, es kommt zu einer Verschlechterung der Leberfunktion und die Patienten werden vermehrt infektionsanfällig. Eine Beeinflussung der Darmflora mit Probiotika könnte durch die Verbesserung der bakteriellen Vielfalt im Darm sowie der Barrierefunktion die Leberfunktion wieder stärken und vielleicht auch die Infektionsanfälligkeit verringern.

Mag. Frauwallner: Selbst in Zeitschriften für Laien wird heute darauf hingewiesen, dass der Zustand des Darms, vor allem die vielfältige Besiedlung durch Darmbakterien, Einfluss auf die seelische Befindlichkeit hat. Inwieweit könnte eine gestörte Verbindung zwischen Darm und Leber auch einen Zusammenhang mit psychischen Problemen haben?

Prof. Stadlbauer-Köllner: Spezielle Signalmoleküle – sogenannte Neurotransmitter, die im Darm entstehen – und bakterielle Produkte aus dem Verdauungsorgan können bis ins Gehirn gelangen. Wir sprechen hier von der Darm- Hirn-Achse. In Tiermodellen konnte ein Zusammenhang zwischen der Zusammensetzung der Darmbakterien und Angst gezeigt werden – in der klinischen Medizin ein Zusammenhang mit Depressionen.

Mag. Frauwallner: Seelische Verstimmung, Depression und Burnout sind heute in aller Munde, werden oft aber nicht ernst genommen. Nach wie vor sind viele der Meinung, dass dies keine Erkrankungen, sondern nur Einbildungen seien, obwohl Sie uns inzwischen anhand von Forschungsergebnissen zeigen können, dass es diese Zusammenhänge tatsächlich gibt. Daher meine Frage: Gibt es auch schwere Erkrankungen im psychiatrischen und neurologischen Bereich, die zeigen, dass die probiotischen Bakterien im Darm eine wesentliche Rolle dabei spielen?

Prof. Stadlbauer-Köllner: Ja, diese Zusammenhänge wurden auch bei anderen psychiatrischen Erkrankungen wie dem Autismus erkannt. Ausserdem spielt die Darm-Hirn-Achse bei der Entstehung von Migräne eine Rolle. Daher ist es durchaus denkbar, dass Probiotika auch bei Erkrankungen des Nervensystems, insbesondere bei jenen mit einer entzündlichen Komponente, eine Rolle spielen.

Mag. Frauwallner: Welche sind die Zukunftserwartungen der Wissenschaftswelt an die Probiotische Medizin? In welchen Bereichen gibt es schon klare Ergebnisse und wo erwarten Sie persönlich in den nächsten 5 bis 10 Jahren bereits Auswirkungen auf die Behandlung von Erkrankungen?

Prof. Stadlbauer-Köllner: Durch die rasant fortschreitende technologische Entwicklung in der Mikrobiomforschung wird es in absehbarer Zeit gelingen, Probiotika mit ganz spezifischen Eigenschaften zu entwickeln, die genau auf eine Erkrankung zugeschnitten sein werden. Schon heute werden Probiotika routinemässig bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, infektiösem Durchfall, vor allem im Kindesalter,antibiotikaassoziiertem Durchfall oder Reizdarmsyndrom eingesetzt. Für die nahe Zukunft erwarte ich mir insbesondere im Bereich der Lebererkrankungen Fortschritte hinsichtlich der Verbesserung der Leberfunktion bei Leberzirrhose und zur Behandlung des Leberkomas. Etwas länger wird es wahrscheinlich noch dauern, bis wir die Möglichkeit haben, Adipositas und das Metabolische Syndrom probiotisch zu therapieren; aber auch diesbezüglich gibt es schon vielversprechende Ansätze.

Mag. Frauwallner: Unsere Leser interessiert natürlich auch immer die private Einstellung von Top-Experten, deshalb: Welcher ist Ihr persönlicher Zugang zu Probiotika? Haben Sie diese selbst in Verwendung bzw. raten Sie auch Ihrer Familie und Ihren Freunden dazu?

Prof. Stadlbauer-Köllner: Meine Familie und ich selbst, wir verwenden immer wieder Probiotika, z. B. bei Antibiotika-Einnahme. Auch meine Freunde und Bekannten berate ich hinsichtlich der Einnahme von Probiotika, und sogar den Hund meiner Eltern konnte ich bei einer infektiösen Durchfallerkrankung erfolgreich mit einem Probiotikum behandeln.

„Bei Leberzirrhose, dem Endstadium chronischer Lebererkrankungen, ist die Zusammensetzung der Darmflora verändert.“
Univ.-Prof. Dr. Vanessa Stadlbauer-Köllner

Mag. Frauwallner: Sie haben uns im Laufe dieses Interviews vor Augen geführt, dass weltweit grosses Interesse an der Verwendung von medizinisch relevanten Probiotika herrscht. Dies spüren auch wir im Institut Allergosan, wo praktisch wöchentlich Anfragen für Kooperationen bei ganz unterschiedlichen medizinischen Themen und wirklich interessanten Studienprojekten eintreffen. Werden Sie selbst weiterhin in der medizinischen Mikrobiomforschung tätig sein und gibt es schon Pläne für weitere wissenschaftliche Arbeiten?

Prof. Stadlbauer-Köllner: Ich möchte unbedingt weiterhin in diesem Feld arbeiten, weil ich die Mikrobiomforschung für das derzeit spannendste medizinische Forschungsfeld halte. Wir planen gerade neue Arbeiten in mehreren Bereichen, z. B. zum Metabolischen Syndrom, zu schweren Infektionen und zu chronischen Nierenerkrankungen, denn bei all diesen gesundheitlichen Problemen spielt das Mikrobiom eine wichtige Rolle. Wir erhoffen uns von diesen Studien einerseits ein verbessertes Verständnis der Krankheitsentstehung und andererseits natürlich die Möglichkeit, über eine Modulation der Darmflora die Erkrankungen günstig beeinflussen zu können.

Mag. Frauwallner: Wir bedanken uns ganz herzlich und freuen uns schon auf die nächsten gemeinsamen wissenschaftlichen Projekte.

 

*Assoz. Prof. Dr. med. Vanessa Stadlbauer-Köllner ist Fachärztin für Innere Medizin, Gastroenterologie und Hepatologie, sowie Leiterin der Forschungseinheit „Transplantation Research“ an der Medizinischen Universität Graz

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