Demenz: Schützt die Darmflora vor dem Vergessen?

Heidrun Valencak-Hösel

Demenz: Schützt die Darmflora vor dem Vergessen?

Welcher Tag ist heute? Wo bin ich eigentlich? Und wer ist die Person, die mit mir spricht? Solche und noch viele weitere Fragen können Demenz-Patienten mit dem unvermeidlichen Fortschreiten ihrer Krankheit häufig nicht mehr beantworten. 10% der Frauen und 6% der Männer über 65 Jahre sind vom zunehmenden Vergessen betroffen, wobei die Alzheimer-Demenz mit zunehmendem Alter vermehrt auftritt. Dass Darm und Gehirn eng miteinander verbunden sind, ist längst Stand der Wissenschaft – doch welchen Einfluss kann das Mikrobiom auf die Alzheimer-Krankheit haben? Diese und weitere spannende Fragen beantwortet Prof. Dr. Dietmar Fuchs im nachfolgenden Interview.

bauchgefühl: Unsere Gesellschaft wird immer älter – und dadurch ist vorhersehbar, dass in naher Zukunft auch immer mehr Menschen von Alzheimer-Demenz betroffen sein werden. Können Sie unseren Lesern kurz erklären, was man unter dieser Krankheit versteht?

Prof. Dr. Dietmar Fuchs: Alzheimer-Demenz bezeichnet eine immer weiter fortschreitende Erkrankung des Gehirns, bei welcher dieses Organ im wahrsten Sinn des Wortes „abbaut“: Die Nervenzellen des Gehirns reduzieren sich – und damit ebenso die geistigen Fähigkeiten. Das macht sich anfangs nur durch eine leichte Vergesslichkeit bemerkbar, kann aber nach jahrelangem Fortschreiten auch dazu führen, dass der Patient die örtliche und zeitliche Orientierung verliert und sogar ihm nahestehende Verwandte nicht mehr erkennt. Häufig werden Alzheimer-Demenz und Demenz synonym verwendet, die beiden Begriffe muss man jedoch voneinander unterscheiden: „Demenz“ fungiert als Überbegriff für jene Krankheiten, die mit einer Verminderung der geistigen Fähigkeiten einhergehen und dadurch die Patienten in ihrem täglichen Leben beeinträchtigen. Die Alzheimer-Demenz stellt die häufigste Form einer Demenz dar, ca. 60% der Patienten leiden an einer reinen Alzheimer-Demenz und ca. 20% an einer Mischform, bei welcher unter anderem die Alzheimer-Demenz vorliegt. Charakteristisch für die Alzheimer-Krankheit sind ihr Auftreten bei Personen über 65 Jahre – wobei die Anzahl der Betroffenen mit zunehmendem Alter rapide ansteigt – und spezifische Veränderungen im Gehirn: Durch die Ablagerung von Eiweiss entstehen sogenannte Plaques, die sich an der Aussenseite von Nervenzellen und auch man Blutgefässen im Gehirn ansammeln. Das schränkt die Nervenfunktion sowie die Sauerstoff- und Energieversorgung des Gehirns ein.

bauchgefühl: Sie sind promovierter Chemiker und beschäftigen sich seit 40 Jahren unter anderem mit dem Immunsystem und mit der Labordiagnostik für neurodegenerative Erkrankungen, wie die Alzheimer-Demenz eine ist. Wie genau trägt Ihre Forschungsarbeit dazu bei, die Alzheimer-Krankheit besser zu verstehen?Demenz: Schützt die Darmflora vor dem Vergessen?

Prof. Dr. Dietmar Fuchs: Bei zahlreichen neurologischen Erkrankungen – wie eben auch bei der Alzheimer-Demenz – sind die Hauptsymptome, die Stadien und das Fortschreiten der Krankheit hervorragend beschrieben, darüber hinaus sind die Gründe für den fortschreitenden Gedächtnisverlust, nämlich die strukturellen Veränderungen im Gehirn, hinlänglich bekannt. Man geht jedoch vielfach davon aus, dass die Krankheit in jenem Organ entsteht, in dem sich Veränderungen zeigen – in diesem Fall also, dass Alzheimer-Demenz im Gehirn beginnt. Wir betrachten bei Alzheimer-Patienten allerdings nicht das Gehirn, sondern haben vor ca. 20 Jahren mit der Labordiagnostik unter anderem des Serums begonnen (Anm.: Das Serum ist der flüssige Bestandteil des Blutes). Uns hat interessiert, ob man verschiedene Biomarker oder Bestandteile des Serums identifizieren kann, die bei Alzheimer- Patienten charakteristisch verändert sind. Tatsächlich hat sich gezeigt, dass unter anderem der Spiegel von Neopterin erhöht ist und dass ein erhöhter Neopterin-Spiegel mit einer schlechteren kognitiven Leistungsfähigkeit korreliert. Neopterin, ein Signalstoff, der von bestimmten Zellen des Immunsystems (z. B. von Fresszellen oder dendritischen Zellen) produziert wird, ist auch in der Lage, entzündliche Prozesse im gesamten Körper weiter zu stimulieren. Diese Erkenntnis hat bestätigt, dass ein überaktives Immunsystem bei Alzheimer-Demenz eine Rolle spielen kann.

bauchgefühl: Der Darm ist bekanntermassen ein wichtiger Sitz des Immunsystems; er beherbergt 80% der körpereigenen Immunzellen und regelt unser Abwehrsystem auf verschiedene Weisen. Dass lässt den Schluss zu, dass erhöhte Immunparameter auf Veränderungen in Mikrobiom und Darm zurückzuführen sein können. Welche weiteren Verbindungen sehen Sie zwischen dem Darm und der Alzheimer-Demenz?

Es gibt auch ausserhalb des Gehirns Prozesse, welche gravierende Veränderungen im Organismus verursachen und eine Rolle bei der Entstehung oder für den Verlauf der Alzheimer-Krankheit spielen können.

Prof. Dr. Dietmar Fuchs: Wir haben im Labor noch weitere interessante Erkenntnisse gewonnen, nämlich dass mit einem erhöhten Spiegel von Neopterin, also der Überaktivierung, des Immunsystems, ein gesteigerter Abbau von Tryptophan einhergeht. Tryptophanist eine essenzielle – also für den Körper unbedingt notwendige – Aminosäure, die u. a. im Nervensystem in die Botenstoffe Serotonin und Melatonin umgewandelt wird. Bei Patienten mit Alzheimer-Demenz ist im Gehirn insbesondere der Botenstoff Serotonin vermindert, was sich durch den gesteigerten Abbau von dessen Vorstufe Tryptophan logisch erklären lässt. Das verringerte Vorkommen von Tryptophan resultiert daraus, dass diese Aminosäure u. a. bei entzündlichen Prozessen vermehrt abgebaut wird. Damit will der Organismus Krankheitserreger an deren Vermehrung hindern. Jene Prozesse sind der Wissenschaft bereits seit Jahren bekannt – doch unsere Forschergruppe hat eine Entdeckung gemacht, welche der Erforschung und der Therapie der Alzheimer- Demenz eine neue Richtung geben kann: Wir haben die Spiegel von Neopterin und Tryptophan im Blut sowie im Liquor gemessen. Letzteres wird auch als „Nervenwasser“ bezeichnet, es umspült Gehirn und Rückenmark und ist im Fall der Alzheimer-Demenz jene Körperflüssigkeit, die in direktem Kontakt mit dem erkrankten Organ steht. Es hat sich gezeigt, dass Neopterin und Tryptophan in beiden Körperflüssigkeiten sehr ungleich verteilt sind – jedoch fällt die vorhandene Menge dieser beiden Stoffe im Blut höher aus als im Gehirn. Das ist für uns ein wichtiger erster Hinweis gewesen, dass es bei der Alzheimer’schen Erkrankung ausserhalb des Gehirns Prozesse gibt, welche gravierende Veränderungen im Organismus verursachen und eine Rolle bei der Entstehung oder für den Verlauf der Alzheimer-Krankheit spielen können.

Dass der Darm und das Mikrobiom hierbei wesentliche Ansatzpunkte darstellen, zeigt sich allein schon am veränderten Tryptophan- Spiegel: Diese essenzielle Aminosäure kann der menschliche Körper ja nicht selbst bilden. Deshalb muss sie entweder mit der Nahrung zugeführt und über den Darm aufgenommen – oder von den Darmbakterien produziert werden. Wenn die Funktion des Darms beeinträchtigt oder das Mikrobiom in seiner Zusammensetzung gestört ist, dann wirkt sich das entscheidend auf den Tryptophan-Spiegel aus. Doch die Rolle des Darms und des Mikrobioms bei der Entstehung und Entwicklung der Alzheimer-Krankheit kann eine weitaus grössere sein: Ausgehend von einer veränderten Darmflora und einer gestörten Darmpermeabilität (Anm.: einer veränderten Durchlässigkeit der Darmwand; „Leaky Gut“), kann es im Darm zu stillen Entzündungen kommen, die sich zu einer systemischen Inflammation entwickeln und auch im Gehirn an der Entstehung von entzündlichen Prozessen beteiligt sein könnten. Diese vom Darm ausgehenden Entzündungen, welche auf den gesamten Organismus übergreifen, könnten zudem eine Erklärung für die hohe Aktivität des Immunsystems bieten – und gleichzeitig einen neuen Therapieansatz, z. B. durch die Verbesserung der Darmflora mithilfe von Probiotika.

bauchgefühl: Sie haben gemeinsam mit Prof. Leblhuber, einem renommierten Neurologen aus Linz, bereits einige Forschungsarbeiten zum Thema Alzheimer-Demenz unter der Betrachtung von Laborparametern ausserhalb des Gehirns publiziert. In einer aktuellen Studie, die im international etablierten Magazin für Alzheimerforschung veröffentlicht worden ist, haben Sie beide untersucht, welche Effekte die Anwendung von Probiotika auf Alzheimer- Patienten haben kann. Welche Erkenntnisse haben Sie aus dieser wissenschaftlichen Arbeit gewonnen?

Prof. Dr. Dietmar Fuchs: Wir haben bei ca. 20 Patienten mit Alzheimer-Demenz Biomarker der Immunaktivierung, also Neopterin und auch den Tryptophan-Abbau, einen Marker für Darmentzündungen (Zonulin) und die Mikrobiom-Zusammensetzung im Stuhl analysiert, und zwar bevor und nachdem die Patienten für vier Wochen ein spezielles entzündungshemmendes Probiotikum erhalten hatten. Nach Ende der Probiotika-Therapie haben wir festgestellt, dass der Spiegel von Zonulin gesunken war, ein Beleg für den Rückgang von Darmentzündungen. Auch der Tryptophan-Stoffwechsel ist positiv beeinflusst und darüber hinaus eine verbesserte Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms dokumentiert worden: Es hat sich ein deutlicher Anstieg von Faecalibacterium prausnitzii gezeigt, von einem der wichtigsten  entzündungshemmenden Darmbakterien.

Schon jetzt ist es eine Möglichkeit, anzudenken, dass Probiotika das Fortschreiten des Vergessens unter Umständen verlangsamen und eine neue therapeutische Option darstellen könnten.

Unsere Ergebnisse der letzten Jahre lassen den Schluss zu, dass die Komposition des Mikrobioms in Zusammenhang mit der Entstehung und vor allem mit dem Verlauf der Alzheimer-Krankheit stehen kann. Natürlich werden bekannte Faktoren wie Genetik und Alter für die Alzheimer-Demenz immer wesentlich bleiben, aber möglicherweise gibt es zusätzliche Kriterien, welche manche Personen früher oder schneller erkranken lassen als andere. Die wissenschaftlichen Beweise für die genauen Zusammenhänge zwischen Mikrobiom und Demenz sind in umfangreichen Forschungen noch zu erbringen, aber schon jetzt ist es eine Möglichkeit, anzudenken, dass Probiotika das Fortschreiten des Vergessens unter Umständen verlangsamen und eine neue therapeutische Option darstellen könnten.

bauchgefühl: Herzlichen Dank für diesen spannenden Einblick!

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